Von Singen und Verabschieden.

Es ist etwas Unfassbares passiert: Ich sang gestern Nacht. Im Prinzip ist das nichts Ungewöhnliches. Aber ich hatte meine Stimme vergraben, weil ich nicht mehr singen konnte. Nicht mehr singen wollte. Wenn ich singe, ist dies ein Türöffner für meine Gedanken, in diesen Momenten sehe ich das, was ich vergessen wollte, fühle das, was unangenehm ist und zehre an dem, was vorbei ist. Unnötig wäre der Hinweis auf meine Vorliebe für tragische Songs, denke ich.

 

Ich glaube, jeder hat so eine Sache: Der Film mit dieser einen Szene, die einen zurückwirft in ein Damals, das kleine Cafe, an dem mehr Momente hängen als es Starbucksfilialen gibt oder das Rauschen vom Meer, weil es eben mit dieser einen Person von früher einen Sinn ergeben hat. Im schlimmsten Fall packen wir aber auch diese Sachen in Kisten oder kleben sie in Alben: Briefe, Fotos, Gedichte, Kinokarten, Pullover, Bierdeckel, Haarsträhnen, Schmuckstücke, Platten. Zwischenzeitlich werden diese Dinge dann herausgekramt oder durch Zufall wiedergefunden. Und erzeugen ein Seufzen, ein Lächeln oder ein kurzes Ziehen in der Brust.

Es sind Orte, die man nicht mehr besucht, Dinge, die man nicht mehr tut, weil sie uns gerade an etwas erinnert. Und das möchte man gerade nicht.

Woran liegt das überhaupt?

Im Leben werden wir sehr oft gefragt, wo wir waren. Oder wo wir hin wollen. Quasi Start- und Zielpunkte. Unsere Lebensgeschichte besteht aus Bildern, Menschen, Erlebnissen, die an uns vorbeilaufen und man sich plötzlich fragt: Wo ist die Zeit hin? Wie konnte sie so vergehen, was ist schon ein Jahr. Oder zwei. Was uns dabei meist in Erinnerung bleibt, ist das Schönste. Oder das, was am meisten weh tat. Wir lernen aus diesen Erfahrungen und wandern weiter.

Was wir dabei allerdings häufig vergessen, ist das wirkliche, ehrliche Verabschieden von dem, was war.

War ein Mensch oder eine Phase unseres Lebens besonders gut, dann packen wir sie in unser Gedächtnis und schmücken sie mit funkelnden Extras und Besonderheiten. Je weiter es entfernt ist, desto strahlender wird es. Das Gleiche gilt für Schmerzliches in unseres Biographie: Der Mensch, der dir das Herz gebrochen, dein Vertrauen missbraucht oder sich in der Warteschlange an der Kasse rüde vordrängelt, wird mit voranschreitender Zeit immer schwärzer oder hässlicher, bis sie, er oder es am Ende als schwarzer Schatten deiner Vergangenheit begraben werden kann.

Ich glaube, wir müssen uns uns mehr Zeit nehmen, um uns ehrlich zu verabschieden. Total realistisch. Weil das Akzeptieren heißt. Egal ob gut oder schlecht, die Person, der Tag oder der Moment bleibt immer der Gleiche. Zumindest in der Zeit, in der er , sie oder es Dich begleitet hat. Stehen zu bleiben und zu betrachten, wer geht und was war, gibt uns die Intensität, zu begreifen, das wir weitergehen können und wir bleiben können wer wir sind, wenn wir möchten. Die Vergangenheit kann uns kurze Zeit genommen haben, wer wir gerne sein möchten oder was als nächstes passieren soll, aber wenn wir akzeptieren, dass es uns erschüttern, aber nicht auslöschen kann, bleibt unser Innerstes erhalten und damit unantastbar.

Und die Verantwortlichkeit dafür, warum Dinge oder Menschen kommen und gehen, liegt nicht mehr allein auf unseren Schultern.

 

Und deswegen singe ich ab sofort wieder. Weil ich mich schon verabschiedet hatte. Denn in diesem Moment, diesem Moment, wo ich meine eigene Stimme wieder hörte , wurde mir klar, dass ich auch einfach nur gerne singe. Ganz ehrlich. Und scheinbar nicht nur tragische Songs, worauf ich nebenbei noch hinweisen möchte.

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Kommentare: 1
  • #1

    Uwe (Dienstag, 10 Mai 2016 13:41)

    Dieser Text hat mich sofort angesprochen. Wenn ich singe bin ich einfach woanders. Wenn ich mal nicht vergessen kann dann singe ich und der Prozess ist im Gange.
    Wir sollten mal wieder zusammen singen. LG