"Ab mit dem Kopf!"

Mein Lieblingsfilm aller Lieblingsfilme ist Alice im Wunderland.

Ich mag dieses Märchen so sehr und besonders die Reise, in die sich die junge Alice stürzt, wenn sie in einer anderen, fantasievollen Welt Abenteuer erlebt. Wer nicht unbedingt zu meinen Lieblingscharakteren gehört ist sie: Die Herzkönigin.

Besonders zeichnet sich diese schwarzhaarige Matrone dadurch aus, dass sie über ihr Königreich herrscht. Königinnen müssen das beizeiten tun, dass sehe ich selbst ein. Was sie allerdings nicht zu der Besten ihrer Art macht, ist ihre Laune: Die Rosen müssen rot sein, beim Kricket hat sie zu gewinnen, komme, was wolle. Sind ihre Befehle nicht zu ihrer vollsten Zufriedenheit erfüllt, entartet sie: Wutentbrannt schreit sie ihr Urteil über die hinaus, die ihre Befehle nicht ausgeführt haben oder ausführen können. In diesem Moment zählt nicht das wieso oder warum, nur: „Ab mit dem Kopf!“ Und das wars dann.

In jedem Comiccharakter oder Märchenfigur ist wohl auch ein gewisser Typus Mensch versteckt, dessen Eigenschaften übertrieben dargestellt werden. Manchmal ist dieses Übertreiben jedoch gar nicht nötig. Ich habe jede Menge Herzköniginnen entdeckt. Im Internet.

Klingt wie ein Märchen? Ist aber so!

Ist Liselotte (natürlich habe ich alle Namen geändert) laut ihres Facebookprofils im realen Leben eigentlich eine rüstige Hausfrau in den Siebzigern, so entartet sie im im Social Life des Internets zur Henkerin: Wutentbrannt fordert sie den Tod von Männern, die pädophile Neigungen haben. Serdar hat da ganz andere Methoden, er ist eher für die klassische Gefängnisvergewaltigung. Er schützt seine stahlharten Kommentare durch fehlendes Profilbild, sein Gesicht möchte er nicht zeigen. Dumm nur, wenn man öffentlich die Visitenkarte seines Arbeitsplatzes als Titelbild postet. Wenn es um das Schreddern von Küken geht, kennt Bettina kein Pardon: Wer schreddert, muss geschreddert werden, alles andere entzieht sich völlig ihrer Logik. Sie ziert ihren Internetauftritt mit zahlreichen Hundebildern, was haben die eigentlich so im Hundefutter? Und für schlechte Eltern, die ihre Kinder misshandeln, hat Yasmin eine Lösung parat: Einfach mal mit ihr in einem Raum einschließen, sie will sich dann um die Bestrafung kümmern. Bei dem Gewaltpotential sollte man sich wohl auch lieber von ihren Kindern fernhalten, die sie stolz in die Kamera hält. Wer muss schon zu Zeiten von mit Füßen getretenen Bild- und Persönlichkeitsrecht Sorgen haben, dass sich da der Falsche die Bilder anschaut, wenn man so eine Agromama hat.

Nun könnte man ja meinen, dass diese hochemotional wütenden Ausbrüche nur dann auftauchen, wenn es um sensible Themen geht. Schließlich sind Pädophilie, Tiertötung oder sämtliche Gewalt an Kindern nun mal Dinge, die in der Seele weh tun.

Weit gefehlt! Es war einmal...

Werden Prinzessinnen und Prinzen in wundersam-wunderbaren Märchenfilmen in den schillerndsten und lieblichsten Worten beschrieben, kann ein Bild von jungen Frauen und Männern bei Facebook schon mal in einem Dornenmeer von Beleidigungen und Demütigungen begraben werden. Frei nach dem Motto: „Beleidige, die Königin hat Laune“, prasseln selbst auf die ästhetischsten Fotos bitterböse Kommentare. Manche sind sogar echte Profis in dieser Fertigkeit der wütenden Entartung geworden. Leni zum Beispiel hat sich dahingehend entwickelt, Frauen nicht ganz, sondern ihre verschiedenen Körperteile zu bewerten. Ihren feschen Spruch: „Körper Top, Fresse flop“, kann sie sich auch leisten. Schließlich ist sie mit ihren Schwarz-weiß-Jeans-Bh-und-Joint-Fotos eine echte Ästhetikerin auf ihrem Gebiet. Auch der junge Cen kann aufgrund von Partyfotos die sexuelle Orientierung von Menschen interpretieren. Wer Frau und wer Shemale ist, dass entscheidet ganz klar er. Schließlich kennt er sich auch mit Kosmetik und Beauty aus, wie die in liebevoller Kleinarbeit rasierten Rauten seiner Frisur und die gezupften Augenbrauen erahnen lassen. Ob das seine Chefs bei einer bekannten Automarke auch an ihm schätzen, bleibt allerdings frei interpretierbar.

In Märchen sind die Helden und Heldinnen die, die am Ende siegen. Alles wird am Ende gut. Auch bei Alice im Wunderland schafft es die Herzkönigin nicht, Alice in die Realität zu verfolgen, sie erwacht und stellt fest, dass die Herzkönigin und alles andere Schlechte nur ein böser Traum war. Leider gilt das nicht fürs Internet. Was dort passiert, aus entbrannter Wut herausgeschrien, bleibt. Und wird von tausenden Augen entdeckt, verbreitet und geteilt. Und weil die Menschen, die diese Wut verbreiten, nun mal real und keine Märchenfiguren sind stellt sich doch folgende Frage: Warum urteilen sie so wutentbrannt und ungefiltert im Internet? Was ist der Unterschied zur „realen“ Welt?

Sighard Neckel* beschreibt die Antwort auf diese Frage mit dem richtigen Ansatz: „Gesellschaft ist eine Tatsache, die wir nicht emotionslos erfahren“. Und vielleicht ist gerade das das Problem. Dort, wo wir uns hinter unseren Facebookprofilen verstecken können, wir den Menschen nicht ins Gesicht sehen müssen, ist die Gesellschaft und damit die Menschen, die wir kritisieren, anonymer. Da kann man Frust, Wut und Hass entladen, ohne eine direkte Reaktion des Gegenübers ertragen zu müssen. Die Entfernung scheint weiter, es ist mehr Platz für die eigene Reaktion.

Doch da unser Leben kein Märchen und die Wütenden keine Herzköniginnen sind, ist eins nicht zu vergessen: Das ist das reale Leben. Und wenn der Arbeitgeber die Kündigung einreicht, die Kinder sich für ihre wütenden Eltern schämen oder die erste Anzeige wegen Beleidigung oder Anstiftung zu einer Straftat ins Haus flattert, dann fühlt sich das überhaupt nicht mehr königlich an. Dann heißt es:“Ab mit dem Kopf!“ Oder man überlegt vorher ob das, was man schreibt, auch für immer im Internet zu finden sein soll.

Denn wenn die Kommentare nicht gelöscht und damit gestorben sind, dann leben sie noch heute...

 

*Quelle: Neckel, N. (199) Blanker Neid, blinde Wut? Sozialstruktur und kollektive Gefühle. Berlin: Nomos Verlag

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Lexy (Donnerstag, 02 Juni 2016 21:55)

    Sehr cooler Text mit Hirn.
    Facebook Trolle neu definiert

  • #2

    aussergewoertlich (Freitag, 03 Juni 2016 00:46)

    Danke, liebeAlex:)