Das Böse

Es fing alles damit an, dass ihre kalten Augen und zusammengekniffener Mund sich zu einem fiesen Grinsen verzogen: „Ich bin Schneeweißchen, Tina ist Rosenrot und Du kannst nicht mitspielen!“ Ihr Name war Anika. Ich war vier Jahre alt. Und zum ersten Mal dem Bösen begegnet.

Der Anfang vom Ende.

In der Grundschule gab es dann dieses eine Mädchen. Sie war in der vierten Klasse, ich in der ersten und das Schicksal der Montessoripädagogik hatte uns in den selben Klassenverband gezwungen. Ihre Fähigkeiten, Schnecken und Mäuse für sämtliche Klassenkameraden zu zeichnen, hatte sie unweigerlich zur Königin des Schulhofs etabliert. Selbst als ich Dank meines Taschengeldes in den florierenden Diddelmäusetauschhandel einsteigen konnte, schien ich ihr aus unerfindlichen Gründen ein Dorn im Auge zu sein. Jegliche Versuche, mich durch meine Zeichenkünste der hässlichen, weiß-schwazen Cartoonmaus in ihre Gunst zu bringen, scheiterten kläglich. Ich verlegte mich auf das Fertigen von Pokemon für die Jungs der Klasse und beschloss darufhin, dass Mädchen nicht immer die nettesten Geschöpfe dieses Planeten waren. Ich war sieben und hatte meine erste existenzielle Krise.

Wie durch ein Wunder betrat ich nach einigen Jahren unversehrt die Pforten eines Gymnasiums, mit dem Vorsatz, dass diesmal alles anders werden würde. Laut meines neun-Jahren-Plans, der Welt gegenüber positiver gestimmt zu begegnen und durch Ehrlichkeit und Authentizität meinen Platz unter den Meinen zu finden, empfand ich diesmal keinen herausragenden Grund, schlechte Dinge zu erleben. Dachte ich. Was soll ich sagen. Nach einem ständigem Auf und Ab der Beliebtheitsskala, Pubertät, Drama, geklauten Freundschaftsbüchern, sämtlicher Kritik meiner modischen Erscheinung, Punkband, hellblondierten Haaren, Liebesbriefen, Tränen und Stress nach dem Sport in der Umkleidekabine, manifestierte sich mein Weltbild: Schwierig. Also nicht alles. Aber Vieles.

Und diese Erkenntnis schien ein ständiger Begleiter zu werden.

Heute gehe ich schlendernd auf die 30 zu. Meine Freunde bekommen Kinder, die Gespräche drehen sich nicht mehr nur noch um Partys und wer alles überhaupt nicht geht, sondern man macht sich auch Gedanken um die Wirtschaft, wer wann heiraten will oder wie man später mit seiner Rente auskommen kann. Man denkt globaler, zieht bei Entscheidungen mehr Aspekte in Betracht und reflektiert lieber zweimal, bevor man einen Weg einschlägt. Nachts trinkt man statt zwei Cola und einem billigen Bier lieber Cocktails und geht vielleicht noch mexikanisch essen, gute Musik ist eher zehn Jahre alt statt gerade in den Charts, Freundschaften spezieller. An Geburtstagen werden öfters statt Alkohol Schallplatten verschenkt, es geht nicht mehr darum, auf welcher Schule du warst, sondern welche Ausbildung oder Studium du hast. Du wirst nicht mehr ermahnt, dein Zimmer aufzuräumen sondern vergisst in deiner eigenen Wohnung, die Blumen zu gießen, es ist nicht mehr hip „straight edge“ zu leben, sondern vegan. Man kauft nicht mehr die Bravo Sport, sondern Autos.

Und dies sind nur ein paar Aspekte. Man ist irgendwie erwachsen geworden.

Aber es gibt immer noch Drama. Es gibt immer noch Böses auf der Welt. Aber es hat einen anderen Namen. Es versteckt sich in deinem Computer, auf den Straßen, im Gespräch oder in einem Gefühl. War für mich mit vier Jahren mein Leben gefühlt zu Ende, weil ich nicht an einem Spiel mit Gleichaltrigen teilnehmen konnte, überfährt mich heute die Machtlosigkeit, wenn vermummte Rechte Asylheime anfackeln. Habe ich mich als Grundschülerin schlaflos im 1,20m großen Bett hin- und hergewälzt, weil ich einfach keine Diddlemäuse mochte und zudem nicht mehr wusste, wo eigentlich meine Bastelschere war, starre ich heute nachts auf meinen Bildschirm, wenn bei einem Attentat hunderte von Menschen sterben, dessen Videos im Internet wie ein Virus umherziehen und immer normaler zu werden scheinen. Habe ich damals aus Liebeskummer, während 100 mal „Wake me up when September ends“ von Greenday lief, gedacht, die Welt geht unter, weiß ich nun wie es sich anfühlt, wenn jemand wirklich für immer geht.

Böses ist Böse. Egal in welcher Dimension. Du kannst wachsen, reifen und gedeihen wie Du willst, zu jedem Stück deines Lebens gehört etwas, was Dich manchmal verweifeln lässt. Gut ist die Erkenntnis, dass man die Betrachtung des Ganzen auch aufwiegen kann. Mit Gutem.

Ich hatte im Kindergarten zum Beispiel eine Erzieherin, die ein Pferd hatte. Und die hat es mit zum Kindergarten gebracht. Und in der Grundschule eine Freundin, die hieß Franziska. Die mochte keine Diddlemäuse, aber mit mir Fahrradfahren. Und Basteln. Und die hatte immer die besten Kindergeburtstage. Im Gymnasium habe ich übrigens meine beste Freundin kennengelernt. Als sie letztes Jahr geheiratet hat, saß ich in der Kirche, während mir die Freudentränen die Wangen herunterliefen. Unser Schmerz wird geteilt, egal ob damals bei schlechten Noten oder heute.

Ich bin ich vom Guten umgeben, in kleinen Dingen, großen Ereignissen oder Menschen, in guten Tagen wie den echt Nervigen. Vielleicht macht das nicht immer alles besser. Aber vielleicht der Gedanke, das Ganze zu betrachten . Denn dann ist das Negative auch ein Teil des Lebens, den man beeinflussen kann. Also nicht ob es da ist. Sondern wie man damit umgeht.

 

Und jetzt gehe ich meine Diddlemausblättersammlung verbrennen. Ganz ohne existenzielle Krise.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0