Das Rehkitz

Für Joni. 

 

Die Sonne bricht sich ihren Weg durch die Blätter und Äste, der leichte Windzug tänzelt ihr entgegen. Das schlurfende Geräusch des Kieselwegs verrät unsere Gemütlichkeit, wir gehen, um zu gehen, nicht, um anzukommen.

 

Ein Nachmittag im Park.

 

Wir haben uns mal wieder lange nicht gesehen. Über zehn Jahre Freundschaft, in einer totalen Unbeständigkeit, machen uns zu Experten für das Wühlen im Vergangenen, im Herauskramen und Zusammensetzen von Erinnerungen. Worte fliegen hin und her, denn miteinander reden verlernt man nicht.

 

„Darf ich Dich mal was fragen?“ Das sind Fragen, die einen aufhorchen lasse. „Mich hat jemand gefragt, ob Du ein Rehkitz hast und erzählt, ihr wohnt mit dem in Eurer Wohnung.“

Ich kann nicht denken. Meine Gedanken überschlagen sich, ich will lachen, aber die Ungläubikeit über diese Geschichte überschwemmt jede Möglichkeit meiner innerlichen Logik.

 

Zur Verdeutlichung: Ich wohne in der Stadt. Vielleicht nicht in Köln, Berlin oder München, aber in einer richtigen Stadt. Unser Stadtbild ist geprägt von grauem Asphalt, sterilen Mehrfamilienhäusern und verlebten Altbauwohnungen, die sich noch nicht mal mit Gärten oder einem Balkon brüsten können.

Und um dies noch mehr zu verdeutlichen: Ich bin jetzt wirklich nicht bekannt wie ein bunter Hund, aber es gibt genügend Menschen die wissen, dass ich weder im Grünen noch in einem versteckten Schloss, das hinter unsere Wohnung (Altbau ohne Balkon und Garten!) liegt, residiere.

 

Die Menschen reden. Und anscheinend auch über mich. Ich bin verblüfft.

 

Ich bin die, mit den roten Haaren. Die nur Kleider und Röcke, aber selten Hosen trägt. Die, dessen Berufsbezeichnung keiner kennt. Die, die auf den ersten Blick total arrogant wirkt. Und so gerne über Soziales diskutiert. Die, die so laut singt. Die, die mehr amerikanische Wrestler aufzählen kann als deutsche Fußballstars. Die, dessen Namen man sich nicht merken kann. Die mit dem Pflanzentick. Die Kaffesüchtige. Die Nachtragende.

Alles wahr.

 

Ich bin die, die zu spät kommt, nie mehr als zehn, aber mindestens fünf Minuten. Ich bin die mit der großen Klappe, die Stille, die Philosophin, die Schräge. Ich bin die, die eitel ist, die immer zuhört, die immer so emotional und dramatisch ist, die Geschichtenerzählerin, die Feministin. Die, die nie Bier trinkt. Die, die bei kitschigen Filmen weinen muss.

Manchmal wahr.

 

Ich bin die, die ein falsches Spiel spielt. Die, die Männer hasst. Die, die morgens immer gut gelaunt ist. Die keine Briefe aufbewahrt. Und die immer gerne zum Frisör geht. Die, die Rosenkohl verehrt. Ich bin die mit dem kleinen Rehkitz in der Wohnung.

Nie wahr.

 

Ich schaue ihn an, er grinst leicht verschmitzt. Ich überlege kurz. “Ja. Bei uns wohnt ein Rehkitz. Es heißt Anti und ist sehr klein.„ Einen Versuch ist es wert, dieses Gerücht weiter in die Welt heraus zu tragen. Er wird mich unterstützen, Freundschaft verpflichtet, denke ich mir. Ich denke, der Trick bei solchen Gerüchten ist die konstante Aufrechterhaltung und möglichst detaillierte Ausarbeitung. Der Kern, die Wahrheit über dieses Gerücht, ist eh schon in unserem fiktiven Wohnungsschloss und unter den Hufen unseres Rehkitzes vergraben.

 

Warum das so ist? Ganz einfach. Hier ein kleiner theoretischer Ausflug in die Psychologie. Ganz kurz, versprochen.

Der britische Psychologe Frederic C. Bartlett hat schon festgestellt, dass es ein „rekonstruiertes Gedächtnis“ gibt. Und das ist kulturell beeinflusst. Bedeutet: In dem Moment, in dem ich jemandem eine Geschichte weitererzähle, rekonstruiert sie sich in meinem Gedächtnis neu, wenn ich sie aufrufe. Schon nach 20 Stunden, laut Bartletts Forschung, finden Abweichungen in der zweiten Wiedergabe statt. Zudem versucht der Erzählende, sein Wissen in einen für ihn logischen Zusammenhang zu bringen. Abhängig von seinem Weltbild. Dann werden noch einige Einzelheiten überbewertet (sharpening) und einige Informationen vereinfacht (leveling)¹. Und zack, wohnt in meiner Wohnung ein kleines Reh.

 

Zwei Wochen später. Whatsapp mit einer Freundin.

Sie: „Wie geht’s dem Reh?“

Ich: „Anti planscht gerade in einem kleinen,aufblasbaren Pool mit seinen Hufen, eben hat es mit uns Nachos gegessen. Es wird gleich gut schlafen können...“

Sie:“ Ja bei dem Wetter ist das planschen auch gut. Nicht auszudenken, wenn ich mich bei dem Wetter noch mit Fell rumschlagen müsste.“

Ich: „Ach da mach ich mir keine Sorgen. Es hat sich von mir einen modischen Kurzhaarschnitt verpassen lassen, vorne kurz, hinten lang.“

 

Es gab da mal, vor knapp vier Jahren, diesen Facebookwitz zwischen ein paar Leuten. Unser fiktives Gruppenmaskottchen war eine kleine Antilope, deren Bilder wir uns zum Spaß hin- und herschickten. So ein paar Wochen. Kleine Antilopen sehen fast aus wie Rehe.

 

Ich bin die, mit den roten Haaren. Die, die nur Kleider und Röcke, aber selten Hosen trägt. Ich bin die, die gerne ein echtes Rehkitz zu Hause hätte. Aber auch die, die weiß, dass Gerüchte überdacht werden sollten, bevor man sie weitererzählt. Unsere Wohnungskapazitäten reichen vielleicht für ein erfundenes Rehkitz. Aber weder für Äffchen, Pferde oder fliegende Elefanten.

Wie wahr.

 

 

¹Koch, Torsten (n.A.) „Stille Post –Eine computergestützte qualitative Inhaltsanalyse „Serieller Reproduktionen““, Universität Hanover.

Bildmaterial: Pixabay.de

Kommentar schreiben

Kommentare: 0